Buchtipp der Woche
Endlich mal wieder Zeit für ein gutes Buch? Wir möchten Ihnen hier jede Woche interessante Literatur-Tipps vorstellen. Viel Spaß beim schmökern!
T.K., Buchtipp vom 07.07.2020
„Wir von der anderen Seite“ von Annika Deker
Erschienen im Ullstein-Verlag
Annika Deker beschreibt in „Wir von der anderen Seite“ sehr humorvoll, aber auch sehr drastisch, wie sich die 35-jährige, erfolgreiche Rahel fühlt, als Sie nach einem dramatischen Multi-Organversagen aus dem Koma erwacht. Sie muss einfach alles neu lernen, und es ist unglaublich beschwerlich und immer wieder mit Rückschlägen verbunden.
Auf dem Weg zurück ins Leben helfen ihr Bruder, ihre Eltern und ihr bester Freund. Dagegen ist Olli, ihr Lebensgefährte erst auf einer Reise, später meist beruflich sehr eingespannt und zeigt sich wenig engagiert. Am Ende ihrer Genesungsodyssee ergeben sich hier noch überraschende Wendungen, die ihre Gesundung nicht unbedingt einfacher machen.
Das alles klingt zunächst überhaupt nicht lustig, sondern eher bedrückend, aber hier kommt der Humor und Witz von Annika Deker ins Spiel. So gibt es beim Medikamentenentzug Albträume mit einem lustig winkenden Eichhörnchen und ihre Haut ist so gelb wie bei Mr. Burns von den Simsons. Beim Lesen muss ich immer wieder grinsen und es ist einfach zu schön, wie sie den Betrieb im Krankenhaus und später auf der Reha beschreibt, ohne zu verharmlosen oder dem das riesige Problem zu verniedlichen. Jeder der schon einmal krank und in der Mühle einer stationären Einrichtung war, wird sich schnell wieder erinnern.
Wenn man es erst einmal über die ersten 30 Seiten geschafft hat, die zugegebenermaßen auch mich gerade in Corona-Zeiten bedrückten, macht es Freude Rahel auf dem Weg zurück ins Leben auf der „normalen“ Seite zu begleiten.
Hier noch zwei Kommentare zum Buch:
»Was war das für eine Freude, dieses Buch zu lesen – ich habe laut gelacht und ins Papier geweint.« Katja Riemann
»Das ist die Chronologie von zwei Kämpfen. Der Kampf um das Überleben und der Kampf um die eigene Unabhängigkeit. Hart und mutig und traurig und schön.« Helene Hegemann
Der Name Annika Deker sagte mir nichts, wie ich aber gelesen habe, dass Sie die Drehbuchautorin von „Keinohr-Hasen“ und Keinohr-Küken ist, habe ich verstanden, warum ihr Buch trotz des schweren Inhalts so leicht und locker daherkommt.
Vielleicht solltest du mal mit jemanden darüber reden
von Lori Gottlieb
Durch Zufall bin ich in meiner Lieblingsbücherei auf dieses bewegende Buch gestoßen. Eine Therapeutin, die sich selbst nach einer für sie überraschenden Trennung in Therapie begibt, muss selbst erfahren, wie schwierig Ehrlichkeit und der Mut ist, sich wirklich auf seine eigenen, tiefen Themen einzulassen. So muss sie selbst ihre eigenen blinden Flecken erkennen und sich verletzlich machen, um daran wachsen zu können.
Parallel beschreibt sie anrührend und spannend zugleich wie ihre eigenen Klienten sich, aber auch sie selbst, Woche für Woche verändern. Da gibt es beispielsweise den narzisstischen Regisseur einer erfolgreichen Serie, der sich erst nach vielen Monaten mit dem traumatischen Tod seines Kindes auseinandersetzt. Oder die krebskranke Professorin, die sich mit ihrem nahen Tod abfinden muss und ihre eigene Trauerfeier minutiös plant. Oder die junge Frau, die sich immer wieder in die falschen Männer verliebt.
Der schwer greifbare Prozess, der in dem offenen Verhältnis zwischen der Therapeutin und ihren Klienten abläuft, hat die Macht das eigene Leben zu verändern. Daneben sind immer wieder kurze Ausblicke auf verschiedene Therapiestile und Schulen eingeflochten, die ich ebenfalls sehr interessant fand.
Nach diesem Buch bekommt die Leser*in nicht nur den Mut, sondern auch die Lust sich selbst auf eine Therapie einzulassen. Denn Menschen, die sich hier Hilfe holen, sind Menschen wie du und ich, die die Chance nutzen ihr Leben zu reflektieren und sich weiterzuentwickeln.
Lori Gottlieb ist eine amerikanische Psychotherapeutin und Schriftstellerin mehrerer Bestseller, sie lebt mit ihrer Familie in Kalifornien. Sie schreibt regelmäßig für The Atlantic, The New York Times, Time, People, Elle und Slate
Theresa Keidel, 18.06.2020
Das größere Wunder – Thomas Glavinic
Die Hauptfigur Jonas nimmt an einer Expedition zum Gipfel des Mount Everest teil. Während des qualvollen Aufstiegs hängt er seinen Erinnerungen nach. Mit einem früh gestorbenen Vater, einem geistig behinderten Bruder und einer alkoholabhängigen Mutter war Jonas' Kindheit alles andere als einfach. Er denkt zurück an seine endlosen Reisen nach Havanna, Tokio, Jerusalem und Oslo. Und schließlich an die magische Begegnung mit Marie, seiner großen Liebe, die sein ganzes Leben verändert. Es geht um die essentiellen Fragen des Lebens: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Und wer bin ich? Auch wenn einige Abschnitte in der Geschichte wohl etwas weit hergeholt sind, kann man doch den inneren Konflikt deutlich nachempfinden und will möglichst schnell erfahren, wie es in der Geschichte weitergeht.
Kurz gesagt: ein Werk voller Liebe, Sehnsucht, Leben, Schicksal, Freundschaft und der Suche nach sich selbst.
Die berauschte Gesellschaft, Alkohol – geliebt, verharmlost, tödlich
Autoren: Prof. Dr. Helmut K. Seitz Ingrid Thoms-Hoffmann Verlag: Kösel, 2018, 19,90 €
Als ich den Namen eines der Autoren las, da wusste ich, dass ich ein Buch vor mir habe, welches auf dem neuesten Stand der Wissenschaft ist, welches alle Fakten zum Thema Alkohol vorstellen wird, die heute auf der Welt verfügbar sind. Dafür steht Prof. Dr. Helmut Seitz, ein engagierter Arzt, überzeugter und überzeugender Wissenschaftler und Krebsforscher.
Über die Erforschung der Krebserkrankungen kam er zur Alkoholforschung. Er weist immer wieder, auch als Mitglied des Wissenschaftlichen Kuratoriums der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), darauf hin, dass Alkoholkonsum einer der Hauptgründe für eine Krebserkrankung ist. Er ist es, der über Expertise in der Behandlung und entsprechendes Wissen verfügt.
Mit dieser international anerkannten Beschreibung des Alkoholkonsums als Hauptursache für Krebs – aber auch viele andere Erkrankungen - war die Basis für sein Eintreten für weniger Alkoholkonsum gelegt. Die „risikoarmen“ Trinkmengen wurden immer wieder reduziert, da es keine gesundheitlich unbedenkliche Untergrenzen gibt.
Diese Kausalkette wird im Buch konsequent dargestellt und es dürfte keinen Leser oder keine Leserin geben, die das Buch ohne die Erkenntnis zur Seite legt, das eigene Trinkverhalten zu reflektieren.
Doch es geht dem Autorenteam nicht in erster Linie darum, das persönliche Trinkverhalten zu hinterfragen, sondern auch um die Frage, wie politisch mit dem zu hohen Alkoholkonsum umgegangen werden sollte. „Genau das scheint das Riesenproblem zu sein“, so schreiben die Autoren, „dass die Politiker nicht wissen, wie gefährlich Alkohol ist. Sie wollen es schlicht nicht wahrhaben“. Denn neben der persönlichen Reduzierung geht es um die gesellschaftlichen Konsequenzen. Alkohol in Deutschland verursacht Schäden in einer Höhe, die seinen wirtschaftlichen Nutzen bei weitem überschreitet.
Internationale Erfahrungen zeigen, dass die Höhe der Schäden durch einfache Maßnahmen reduziert werden können: Preiserhöhungen; Werbeeinschränkungen, Erhöhung der Altersgrenzen, Senkung der Promillegrenzen im Straßenverkehr, um nur einige Maßnahmevorschläge zu zitieren.
Wenn Helmut Seitz die Fakten im Buch zu verdanken sind, so schafft es die Autorin Ingrid Thoms Hoffmann immer wieder, dass das Buch nicht als rein wissenschaftlich oder gar dogmatisch daherkommt, sondern dass man es sehr gut lesen kann, dass man sich auf die Argumentation einlassen kann und merkt, dass sie immer an ihre Leserinnen und Leser denkt.
Dieses Buch müsste eine Pflichtlektüre für Politikerinnen und Politiker – zumindest aber für ihre Zuarbeiter – sein. Auch die Funktionäre der Sozialversicherungsträger würden neue Einsichten gewinnen. Vor allen Dingen aber auch Ärztinnen und Ärzte. Alkoholabhängigkeit ist sowohl in den medizinischen Klassifikationssystemen beschrieben als auch durch die Renten- und Krankenversicherung als Pflichtleistung anerkannt. Wenn wir die Inhalte des Buches „Alkohol ist für jeden in jeder Menge gefährlich“ und „Alkoholfolgeschäden sind, bei frühem Reagieren durch den Arzt, gut behandelbar“ zur Kenntnis nehmen, dann gibt es ein Arbeitsfeld, um dass sich insbesondere die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte für ihre Patientinnen und Patienten engagieren sollten.
Wissensbasis, Nachschlagewerk und spannend geschriebenes Buch – hoffen wir, dass es eine Chance bekommt, diese Funktionen als wichtiger Begleiter für möglichst viele Menschen zu erfüllen.
Rolf Hüllinghorst, Bielefeld
Rolf Hüllinghorst war bis zu seinem Ruhestand 19 Jahre Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS).
Buchtipp vom 07.05.2020
Nur Mut! Das kleine Überlebensbuch
Erfreulich einfach und richtig nett illustriert von Kai Pannen beschreibt Dr. med. Claudia Croos-Müller 12 kleine Übungen, um sich bei Herzklopfen, Angst und Panik wieder zu erden und gelassener zu werden.
Das Besondere an den kleinen Übungen ist, dass sie wirklich jeder problemlos umsetzen und in den eigenen Alltag integrieren kann. Gleichzeitig wird erklärt, was die Körperübung im Gehirn bewirkt, also warum dies uns hilft mutiger und ruhiger zu werden.
Beispielsweise „lernen“ wir in der Übung 2 zu schnauben wie ein Pferd oder bei Übung 8 die Zunge „spazieren gehen zu lassen“. Angstspannung wird im Gesicht abgebaut und dem Gehirn Entspannung signalisiert.
Die Fachärztin für Neurologie und Psychotherapie aus Oberbayern hat eine ganze Reihe von hilfreichen Selbsthilfebüchern herausgegeben, die sich auch ganz hervorragend zum Verschenken eignen. In der Reihe beim Köselverlag sind noch „Kopf hoch“, „Viel Glück“, „Schlaf gut“ „Bleib cool“ und „Alles Liebe“ erschienen. Zum Teil wiederholen sich die einfachen Übungen, es ist also sinnvoll sie erst einmal durchzublättern, bevor man sie kauft.
Zusätzlich gibt es noch eine App „Body2Brain“, die man sich kostenlos z.B. bei Google Play herunterladen kann.
Die kleinen Bücher sind auf jeden Fall eine nette Idee, die auch das Kind in uns mit den liebevollen, kleinen Bildern anspricht und uns daran erinnert, dass wir in schwierigen Situationen wie in der jetzigen Coronazeit auch selbst für unser Wohlbefinden etwas tun können.
ISBN 978-3-466-30945-0
Was man von hier aus sehen kann von Mariana Leky
Von der unbedingten Anwesenheitspflicht im eigenen Leben
Klappentext:
"Selma, eine alte Westerwälderin, kann den Tod voraussehen. Immer, wenn ihr im Traum ein Okapi erscheint, stirbt am nächsten Tag jemand im Dorf. Unklar ist allerdings, wen es treffen wird. Davon, was die Bewohner in den folgenden Stunden fürchten, was sie blindlings wagen, gestehen oder verschwinden lassen, erzählt Mariana Leky in ihrem Roman.
›Was man von hier aus sehen kann‹ ist das Porträt eines Dorfes, in dem alles auf wundersame Weise zusammenhängt. Aber es ist vor allem ein Buch über die Liebe unter schwierigen Vorzeichen, Liebe, die scheinbar immer die ungünstigsten Bedingungen wählt. Für Luise zum Beispiel, Selmas Enkelin, gilt es viele tausend Kilometer zu überbrücken. Denn der Mann, den sie liebt, ist zum Buddhismus konvertiert und lebt in einem Kloster in Japan …"
Ein herzerwärmendes Buch, geschrieben mit viel Witz, aber durch die Themen Tod und Verlust absolut nicht oberflächlich. Man kann sich oft nicht entscheiden, ob man beim Lesen weinen oder lachen will, so hinreißend ist die Geschichte on Luise und den anderen Dorfbewohnern. Auf so gut wie jeder Seite findet man tiefsinnige Passagen, die man am liebsten sofort jemandem vorlesen möchte. Oder man verschenkt einfach gleich das ganze Buch, weil das Bedürfnis so etwas Berührendes weiterzugeben und zu teilen so groß ist. Einfach ein wunderbares Buch!
Svenja Hausschmid, 30.04.2020
Buchtipp vom 21.04.2020
„Die verlorene Seele“ von Olga Tokarczuk
Erschienen im Kampa-Verlag, ISBN-13: 9783311400011
Dieses faszinierende und wunderschön illustrierte Buch wird zwar als Jugend- und Bilderbuch verkauft,
seine tiefsinnige Geschichte ist jedoch zeit- und alterslos. Es gibt wenig Text zu lesen und eine Menge zu entdecken.
Inhaltsbeschreibung:
Ein Mann arbeitet viel und sehr schnell. Da hat seine Seele Mühe, ihm zu folgen, und geht verloren. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als auf den Rat seiner Ärztin zu hören: Er muss warten - warten, bis seine Seele wieder bei ihm ist, ihn eingeholt hat. Und das kann eine Weile dauern.Olga Tokarczuk erzählt eine berührende Geschichte über die Kraft der Geduld und der Erinnerung - und über unseren Umgang mit uns selbst. Wie mit einer zweiten Stimme wird der Text von Joanna Concejos geheimnisvollen Bildern untermalt - ein eigenes Universum, das Träume und Phantasien weckt.Die verlorene Seele erhielt u.a. den Bologna Ragazzi Award, den Preis des Internationalen Kuratoriums für das Jugendbuch (IBBY) und steht auf der Empfehlungsliste der Internationalen Jugendbibliothek (The White Ravens).
Viel Freude bei dieser etwas anderen Entdeckungsreise!
Susanne Jaschek
Selbsthilfe-Kontaktstelle Landshut
Die schönen Dinge siehst du nur, wenn du langsam gehst
von Haemin Sunim
In dem schön illustrierten Bestseller schreibt der südkoreanische Zen-Mönch und ehemalige amerikanische Collegeprofessor Haimin Sunum Essays zu acht Themenbereichen. Jeweils im Anschluss gibt es zum jeweiligen Thema ein buntes Sammelsurium an Lebensweisheiten und Gedanken.
Es ist ein Buch, das zu eigenen Überlegungen einlädt und mir immer wieder gute Impulse für den Tag gibt. So schlage ich nach Lust und Laune eine Seite auf und lasse mich inspirieren.
Bei Kapitel Eins geht es beispielsweise ums Innehalten. Da wir dies im großen Stil im Moment alle tun müssen, hier eine schöne Anregung, der ganzen Situation mit Humor und einem Lächeln zu begegnen:
„Glücklich zu sein erfordert keine großen Anstrengungen,
irgendwo anders hinzugelangen.
Entspanne dich in den gegenwärtigen Moment hinein,
und finde Humor in deinem Leben.
Mit Humor wird das Leben leicht und gemächlich
Und Lachen bewirkt immer,
dass die Menschen sich öffnen und sich freuen.“
Bei den anderen Kapiteln gibt Haemin Sumin zu vielen Lebensbereichen gedankliche Anregungen, beispielsweis zu Liebe und Beziehungen, oder zu Zukunft und Spiritualität.
Das Buch überzeugt mich auch durch die stimmungsvollen, einfachen Illustrationen von Youngcheo Lee.Ein Buch, das dazu einlädt den Tag damit zu beginnen oder ihn damit abzuschließen.
Viel Freude beim Lesen!
Ihre Theresa Keidel
ISBN: 978-3-95803-I34-0, deutsche Fassung erschienen im Scorpio Verlag (5. Auflage 2017)
Leseempfehlung vom 08.04.2020
Bücher von Kent Haruf
von Ulrike Beck-Iwens, Selbsthilfekontaktstelle Hof:
Ich habe einen weiteren Tipp. Die Bücher von Kent Haruf sind für Menschen geschrieben, die sich gern hinaus tragen lassen.
Alle seine Romane spielen in einer fiktiven Kleinstadt in Colorado. Es sind sehr ruhige und schöne Bücher, wie ich finde.
"Lied der Weite" gibt es schon als Taschenbuch und "Unsere Seelen bei Nacht" wurde mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt und man kann diesen Film kostenlos bei Netflix streamen.
"Abendrot" ist die Fortsetzung von "Lied der Weite" und gibt es nur als gebundene Ausgabe.
Buchtipp vom 31.03.2020
Luftikuss und Tausendsassa von Katharina Mahrenholz und Dawn Parisi
Erschienen im Dudenverlag (2018)
Verliebt in 100 vergessene Wörter
So spricht heute ja eigentlich niemand mehr, aber irgendwie kenne ich viele dieser Worte doch (noch). Nur was sie genau bedeuten, woher sie stammen und wie sich ihre Geschichte liest, das war mir nicht klar. Zu jedem Begriff gibt es eine Illustration, eine zeitliche Einordnung, den Ursprung, manchmal ein Plädoyer dieses Wort wieder zu benutzen und Synonyme. Ganz am Schluss kommt noch die besonders schöne Kategorie „Reimt sich auf“.
Vom Adamskostüm bis zum Zipperlein......ältere werden einige dieser Worte kennen, vielleicht noch gebrauchen oder das ein oder andere wiederentdecken. Es macht große Freude in diesem Buch zu schmökern, es eignet sich für mal zwischendurch, als interessantes Geschichtsbuch, als Nachschlagewerk und als Erinnerung an längst vergessene Zeiten. Sehr empfehlenswert.
Irena Tezak
Ein Beispiel: "Erklecklich"
Zeit: 17 Jahrhundert. Der Flaschenkorken wurde erfunden. Wein konnte endlich in Flaschen gelagert werden – was beim Ausschenken für weniger Kleckse auf dem Fußboden sorgte, aber leider nicht die Herkunft des Wortes erklärt
Ursprung: Die Geschichte dieses Adjektivs ist etwas für linguistische Feinschmecker. Es war einmal das lautmalerische Wort klecken, das ein geräuschvolles Fallen beschrieb – also „klatschen“, „knallen“ bedeutete, aber auch das meist darauf folgende „Platzen“ oder „Bersten“. Und wie auch bei dem Verb klappen hat sich die Bedeutung völlig verschoben: Wenn man etwas mit einem Klapp! Oder eben Klatsch! Abschließt, ist es (erfolgreich) vollbracht. Bald bedeutete klecken also auch „zustande bringen“, „gelingen“, später dann hieß es erklecken für „ausreichen“, „genügen“. Und daraus entsprang schließlich das Adjektiv erklecklich für „genügend“, „beträchtlich“. Allerdings muss man ehrlicherweise dazu sagen, dass diese Geschichte nicht zu Ende erforscht ist.
Verwandt: Der Klecks hieß im 16 Jahrhundert noch Kleck – eben von klecken. Unter anderem beschrieb man damit auch das Geräusch, das entsteht, wenn etwas Dickflüssiges, Breiiges auf dem Boden auftrifft. Daraus wurde dann Klecks – und natürlich auch kleckern.
Gebrauch: Die erkleckliche Summe findet man immer noch in Berichten über Steuerbetrüger, aber ansonsten wirkt der Gebrauch dieses Wortes erklecklich schnell affektiert. Was erklecklich schade ist – bei der Geschichte!
Synonyme: außerordentlich, extrem, beachtlich, exorbitant, ausnehmend, kolossal, mega, krass
Reimt sich auf: Zickzackstich, Wollteppich, schrecklich
Buchtipp vom 26.03.2020
„Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ von Elisabeth Tova Bailey - ein unglaubliches Buch
Da erkrankt eine Journalistin so schlimm an einem eingeschleppten Virus, dass sie nur noch liegen kann, und immer mehr isoliert ist.
Eine Freundin bringt ihr eine ganz gewöhnliche Schnecke samt Topfpflanze mit, und Elisabeth Bailey fängt an die Schnecke zu beobachten und immer mehr an deren Leben teilzunehmen.
Das klingt irgendwie langweilig und traurig, ist es aber (fast) nicht. Na gut, in der Mitte des Buches gibt es doch ein paar Längen, aber sonst ist es sehr tröstlich und poetisch. Botschaft für mich ist, dass wir auch in einer extrem isolierten und impulsarmen Zeit seelisch gesund bleiben können, wenn wir uns mit Leidenschaft einer Sache, einem Thema widmen. Und dass wir von einer Schnecke ziemlich viel lernen können!
Ich habe es vor ein paar Wochen gelesen, wo die meisten von uns das Coronavirus noch nicht richtig ernst genommen haben und habe mich gefragt, wie ich diese Situation meistern würde.
Jetzt ist dies alles doch viel näher gekommen, als uns allen lieb ist. Aber natürlich trotzdem noch längst nicht so extrem wie beim „Geräusch der Schnecke“.
Viel Spaß beim Lesen wünscht allen
Theresa Keidel
ISBN 978-3-492-30237-1, Piperverlag