Bayernweiter Selbsthilfefachtag Sucht & Gesundheit am 05.07.2019 in Neu-Ulm
Sucht & Co - Sucht kommt selten allein und nicht aus heiterem Himmel
"Mein Name ist Kranich"
So beginnt der Text (siehe unten) einer Betroffenen, die sich kreativ rund ums Thema Sucht sowie mit Methoden aus dem Poetry Slam mit ihrer Geschichte auseinandersetzte.
Der 10. Selbsthilfefachtag Sucht und Gesundheit mit dem Titel „Sucht & Co - Sucht kommt selten allein und nicht aus heiterem Himmel“ fand am Freitag, den 5. Juli 2019 in Neu-Ulm statt. In seinen Grußworten lobte Oberbürgermeister Gerold Noerenberg die wertvolle Arbeit der Suchtselbsthilfe. Auch die stellvertretende Landrätin Sabine Krätschmer wusste um die heilsame Wirkung der Gruppenarbeit.
Wie eine Sucht entstehen kann erläuterte zunächst die Suchttherapeutin Marion Richter in ihrem Impulsvortrag. Danach setzten sich die Teilnehmenden auf teils ungewöhnliche Weise in vier Workshops mit dem Thema Sucht und Gesundheit auseinander.
Sucht und Psychische Erkrankungen gehören häufig zusammen und auch Depressionen werden (endlich) weniger tabuisiert.
In Rollenspielen konnte die soziale Kompetenz trainiert werden, wobei sich selbst Skeptiker überzeugen ließen.
Und was Angehörige für sich tun können, wenn der Partner oder die Partnerin „trockengelegt“ sind, war ebenfalls Thema. Denn dann fängt es eigentlich erst richtig an. Die Dynamik in der Familie ändert sich, Rollen werden neu verteilt.
Wie gut es ist und sein kann, die Selbsthilfe in all ihren Facetten immer wieder zu erleben und wie gut es tut, gemeinsam zu wachsen, das bestätigten die Teilnehmenden durch ihre engangierten Diskussionsbeiträge in den Workshops und dem anschließendem Austauschcafé.
Plenumsvortrag: Entstehungsmodell der Sucht
Zu Beginn der Veranstaltung hat die Suchttherapeutin Frau Marion Richter die Entstehung einer Abhängigkeitserkrankung anhand des multifaktoriellen Konzepts des bio-psycho-sozialen Modells erklärt. Denn die Faktoren, welche zur Entstehung einer Sucht beitragen, sind nicht als Ursache-Wirkungs-Verhältnis zu verstehen, sondern als Wechselwirkungsverhältnis. Dieses besteht aus Ursachen in der Person liegend, in deren Umwelt als auch in dem Suchtmittel an sich.
Zusammenfassung der Workshops
Workshop 1: Sucht und Schreiben
Schreiben und Süchte - wie passt das zusammen? Also erstmal: Poetry Slam kann süchtig machen! Mittels verschiedener kleiner Schreibimpluse rund ums Thema Sucht und Süchte sowie mit Methoden aus dem Poetry Slam zeigte Pauline Füg den Teilnehmerninnen, wie sie kreativ über Sucht nachdenken können. Einige kreative Impressionen der Teilnehmer*innen können Sie hier nachlesen:
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Mein Name ist Kranich
Ich fliege mit meiner Schar in zweiter Reihe Richtung Himalaya, um ihn zu überwinden.
Ich träume davon diese Hürde gemeinsam zu schaffen, um dann einen Nistplatz zu finden.
Ich hatte vor langer Zeit den Versuch unternommen.
Nun aber wird’s gelingen.
Die ganze Zeit fühle ich mich „beflügelt“, voller Tatendrang, die Gemeinschaft trägt.
Oft darf ich dazulernen und morgen ist ein neuer Tag, ein Geschenk, Verantwortung, Liebe…..
Gestern ist geschehen.
Jetzt nehme ich am Leben teil.
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Mein Name ist Säule
Ich bin grau und bin jetzt hinter Pauline. Ja, so ist das. Ich bin da und ich denke auch sehr wichtig, aber viele, sogar sehr viele nehmen mich absolut nicht wahr.
Ich träume davon mehr akzeptiert zu werden. Das ist doch echt ein schöner Satz. So etwas wurde von mir noch nie abverlangt. Aber natürlich habe ich Träume, viele Träume sogar.
Ich hatte schon sehr viele Erlebnisse. Und mitbekommen tut man sehr viel. Erst recht dann, wenn man gar nicht so beachtet wird, sprich unauffällig ist. Menschen kommen und gehen. Und wie unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich wie die Veranstaltungen im Hause. Als ob sich die Menschen den Veranstaltungen anpassen. Klar, bei einem Sinfoniekonzert sind sie anders, als bei einem Rockkonzert. Irgendwie sind die Menschen schon allein bei der Veranstaltung, egal welcher, anders als sonst.
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Mein Name ist Herr Verständnisvoll
Ich träume (da)von meist ohne Groll
Ich hatte mich schon oft gefragt
Die ganze Zeit jedoch nichts gesagt
Oft reicht mein Verständnis zwar für jedermann
Doch wann bin ich wohl selbst mal dran?
Morgen werd ich zur eigenen Meinung stehen
Und die Andren werden sehen
Gestern Ist Vergangenheit
Bin für neues nun bereit
Jetzt habe ich diesen Entschluss gefasst
Ich Mach mein Ding – wenn ihr mich lasst!
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Mein Name ist Herr Führerschein
Ich träume (da)von ein Fahrzeugführungspapier zu sein
Ich hatte richtig gute Tage
Die ganze Zeit in der Autofensterablage
Oft jedoch – es war wohl des Besitzers Wille
Morgen schon mit 2 Promille
Gestern ist er aufgeflogen
Jetzt hat man mich eingezogen
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Mein Name ist Brennnessel
Mich gibt es überall
Ich träume davon Menschen helfen zu können. Ich träume von Menschen die sich helfen lassen wollen.
Ich habe heilende Kräfte, die von den Menschen oft vergessen werden.
Die ganze Zeit werde ich gemieden, weil ich beim unvorsichtigem Berühren die Haut der Menschen verbrenne.
Oft wird mir gesagt, dass ich gar nicht in diese Welt gehöre, beziehungsweise nur sinnlos bin.
Morgen werde ich meine Blüten, Blätter und Samen an die Insekten und Menschen verschenken. Dadurch bleibt die Natur erhalten und der Blutkreislauf der Menschen wird gereinigt.
Gestern habe ich die Sonne genossen.
Jetzt geht es mit gut. Ich kenne meinen inneren Wert. Bin dankbar, dass ich geboren wurde. Ich bin glücklich und zufrieden.
Workshop 2: Ursachen der Sucht im sozialen Umfeld sehen und angehen – Ein Selbsthilfeweg
In diesem Workshop beschäftigten sich die Teilnehmer überwiegend mit den Ursachen der Sucht im sozialen Umfeld.
Der Workshop-Leiter, Herr W., trockener Alkoholiker, schilderte sehr offen und eindrucksvoll, wie negative Erfahrungen im familiären Umfeld seiner Kindheit (Vernachlässigung, Schläge, Missbrauch, sowie das Fehlen von Liebe, Fürsorge und Geborgenheit) seine Suchterkrankung verursacht haben. Das jahrelange Verdrängen des Erlebten, sowie ein Umfeld mit Menschen, die zu viel Alkohol konsumierten, haben seine Sucht weiter begünstigt. Diese sehr bewegende Lebensgeschichte und der anschließende Austausch der Teilnehmer*innen im Workshop und in den Austauschrunden zeigten, dass Sucht nicht aus „heiterem Himmel und selten allein kommt“, sondern viele verschiedene Ursachen haben kann, die unter Umständen weit zurück liegen (oft in der Kindheit).
Wege aus der Sucht können sein, sich auf die Suche nach den Ursachen zu begeben, diese nicht zu verdrängen, den damit verbundenen Schmerz zuzulassen, ihn zu ertragen, mit nahestehenden Menschen wie dem Partner/der Partnerin darüber zu sprechen, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen und sich in einer Selbsthilfegruppe auszutauschen.
Sich von der Sucht befreien kann aber nur die/der Betroffene selbst. Der Workshop-Leiter verdeutlichte dies anhand eines Kreislaufes, dessen Phasen unbedingt linear nacheinander durchlebt werden sollten: von der Absichtslosigkeit „Mir ist alles egal“, über die Ambivalenz-Phase hin zur Entscheidungsphase „Ich möchte von der Sucht loskommen“, können Betroffene zu einer tatsächlichen Verhaltensänderung gelangen, insbesondere zur Abstinenz vom Suchtmittel. Die anschließende Phase der Aufrechterhaltung ist eine sehr schwierige Phase, da waren sich alle am Workshop Teilnehmenden einig. Ohne das Suchtmittel auszukommen, hinterlässt zunächst eine Leere, die es zu „füllen“ gilt, zum Beispiel mit „erfüllenden“ Freizeitbeschäftigungen. Bei Herrn W. war es das Hobby der Fotografie, die Ablösung vom Alkohol-konsumierenden Freundeskreis, ein neuer, verständnisvoller Lebenspartner und die Selbsthilfegruppe, die ihm wieder Freude am Leben geschenkt haben, so dass ein Leben ohne Alkohol möglich wurde. Schlussendlich gibt es noch die Phase des Rückfalls. Bei einem Rückfall sollte sich der Betroffene frei machen von Selbstvorwürfen, sondern vielmehr zuversichtlich den Kreislauf Schritt für Schritt erneut durchschreiten.
Der Workshop befasste sich neben den Ursachen der Sucht auch mit der Perspektive der Angehörigen:
Angehörige können den Suchtkranken nicht von der Sucht befreien, ihn also nicht „trocken legen“. Vom Suchtmittel loskommen kann nur der Betroffene selbst, und zwar ganz allein. Was aber können Angehörige tun, um den Süchtigen verständnisvoll und unterstützend zu begleiten? Alle Teilnehmer*innen waren sich einig, dass Angehörige aufgrund der sehr belastenden Situation zuerst gut für sich sorgen und selbst Hilfe in Anspruch nehmen sollten, z.B. therapeutische Hilfe oder sich in einer Selbsthilfegruppe austauschen. Die Hilfe für Angehörige hat in jedem Falle den gleichen Stellenwert wie die Hilfe für die Suchtkranken. Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, nicht nur für das des Suchtkranken, ist Voraussetzung, um eigene Bedürfnisse wahrzunehmen, sachlich und konsequent zu bleiben, Grenzen zu ziehen und sich nicht co-abhängig zu verhalten.
Hilfreich ist es, wenn Angehörige sich bemühen, hinter die „Fassaden“ des Suchtkranken zu blicken, z.B. negative Verhaltensweisen wie aggressives Verhalten, Abstreiten, Lügen, Verharmlosen, Gleichgültigkeit, Lieblosigkeit, Schuldzuweisungen hinterfragen und Interesse für die möglichen Ursachen der Sucht zeigen. Für offene Gespräche zur Verfügung stehen und vermitteln „Ich interessiere mich für Dich, ich bin für Dich da“, unterstützt den Suchtkranken bestmöglich. Wichtig ist es, Sucht als Erkrankung anzuerkennen und den Betroffenen zu ermutigen, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen oder Unterstützung in einer Selbsthilfegruppe zu suchen.
Workshop 3: Ausgrenzung als Folge – und mein Weg zurück
Obwohl sich die Ursachen und Mechanismen von Suchterkrankungen heute wissenschaftlich erklären lassen, werden suchtkranke Menschen im Alltag und in der Gesellschaft häufig mit Vorurteilen konfrontiert. Das soziale Umfeld ist immer noch nicht ausreichend für Abhängigkeitserkrankungen sensibilisiert, was wiederrum zu großen Unsicherheiten, Missverständnissen und Frustration auf beiden Seiten führen kann. In diesem Workshop wurden die schwierigen Fragestellungen rund um das Thema „Ausgrenzung als Folge der Sucht“ spielerisch bearbeitet.
Referentinnen: Christin Krieger, Dipl. Sozialpädagogin (FH), Sozialtherapeutin (Sucht) und Verena Schneider, Sozialpädagogin (B. A.), beide aus der Suchtberatungsstelle Diakonisches Werk Neu-Ulm
Workshop 4: Sucht und psychische Erkrankungen
Im Workshop Nr. 4 beschäftigten sich die Teilnehmer*innen mit dem Thema Sucht in Verbindung mit psychischen Erkrankungen und deren Folgen für die Selbsthilfearbeit.
„Mehr als die Hälfte der Teilnehmer*innen unserer Gruppe leiden neben der Sucht zusätzlich an einer psychischen Erkrankung“, berichtete ein Selbsthilfeaktiver vom Freundeskreis Ulm, der den Workshop mit zwei weiteren Teilnehmerinnen der Gruppe sowie mit Herrn Tiltscher von der Suchtberatungsstelle der Caritas Ulm gemeinsam leitete. Auch die 22 Teilnehmer*innen stellten fest, dass Mehrfacherkrankungen in der Selbsthilfe zunehmend zu beobachten sind. Insbesondere Depressionen und Ängste seien, laut Einschätzung der Anwesenden, häufige Diagnosen in Verbindung mit einer Suchterkrankung.
Eine Teilnehmerin des Freundeskreises Ulm erzählte von ihren Erfahrungen als Tochter eines suchtkranken Vaters. Die Sucht habe das gesamte Familienleben und auch das soziale Umfeld beeinflusst. Um den Teufelskreis der Co-Abhängigkeit zu durchbrechen, habe es ihr geholfen, gut für sich zu sorgen und sich in der Selbsthilfegruppe auszutauschen. So konnte sie lernen, besser mit der Suchtproblematik in der Familie zu leben und nicht selbst psychische Probleme zu entwickeln.
Eindrücke weiterer Teilnehmer*innen unterstrichen die Aussage, dass der Besuch einer Selbsthilfegruppe zum Genesungsprozess beiträgt und eine wertvolle Stütze ist, auf dem langen Weg aus der Sucht. Der besondere Wert der Selbsthilfe liegt darin, dass die Teilnehmer*innen offen über Ihre Situation sprechen können und Verständnis erfahren. In der Gruppe braucht sich niemand „verstecken“ oder eine „heile Welt“ vorspielen, wie es viele Suchtkranke oder auch deren Angehörige im Alltag oft tun, um das Suchtproblem zu verbergen.
Ob zuerst eine Sucht oder eine psychische Erkrankung vorliegt, ist ebenso schwer zu beantworten wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei, stellten die Teilnehmer*innen fest. So würden Depressionen nicht selten Suchterkrankungen auslösen. Im Falle von Mehrfachdiagnosen werde zunächst die Suchterkrankung behandelt, erläuterte Herr Tiltscher von der Suchtberatungsstelle der Caritas Ulm.
Wichtig ist, dass Betroffene und Angehörige den ersten Schritt machen und sich Hilfe suchen. Hilfe bieten die Suchtberatungsstellen, deren vertrauliches Angebot offen ist für Menschen, die das Gefühl haben, ein Suchtproblem zu haben, oder für Angehörige und Freunde von Menschen mit Suchtproblem, so Herr Tiltscher. Selbsthilfe arbeitet heute „Hand in Hand“ mit den Suchtberatungsstellen. Viele Einrichtungen haben den Mehrwert durch Selbsthilfe für ihre Klienten erkannt und weisen gerne darauf hin. Ebenso stellen viele Beratungsstellen Räume für Gruppentreffen zur Verfügung. Auch die Vernetzung von Selbsthilfe und niedergelassenen Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen sei sehr wichtig, damit suchtkranke Menschen an die für sie geeigneten Hilfsangebote gelangen.
Als Fazit trugen die Workshop-Teilnehmer*innen zusammen, dass Mehrfachdiagnosen in der Selbsthilfe aktuell eine große Herausforderung sind, auf die sich die Gruppen zunehmend einstellen müssen. Um eine Überforderung der Selbsthilfe durch Teilnehmer*innen mit Mehrfacherkrankungen zu verhindern, sollten insbesondere Gruppenansprechpartner*innen sich gut abgrenzen und ggf. auf das professionelle Hilfesystem verweisen. Selbsthilfe ist eine wertvolle Ergänzung zu einer medizinischen/therapeutischen Behandlung.
Hier können Sie das Programm im PDF-Format herunterladen: